Wer ist das, dieser brasilianische Staat?

Wenn brasilianische Soldaten nach Hipana kommen, werden die Leute deswegen nicht nervös. Wir sind doch alle aus dem gleichen Land. Am Militärposten von Tunuí kontrollieren sie unsere Boote, sie öffnen alle Kisten und schauen unter die Regenplanen. Sie halten ihre Waffen gezückt, und manchmal reden sie rau mit uns. Aber am Ende lassen sie uns immer passieren. Ist das so, weil wir Indigene sind? Ist es, weil wir Brasilianer sind?

Ein Armeeleutnant hat uns in Hipana mal eine Nationalflagge vorbeigebracht, und an manchen Tagen lässt Plinio sie vor der Schule hissen. Die Schüler stehen dann in Reihen da, die Hände an die Naht ihrer Badehosen gelegt, und singen die Nationalhymne.

In manchen Jahren kommen die Soldaten besonders häufig in unsere Dörfer, weil sie Goldschmuggler suchen oder Drogenhändler jagen. Jeder von uns weiß, wann die Drogenkuriere über die Flüsse fahren, meist tun sie das in der Nacht. Sie schlagen auch eigene Pfade durch den Wald und laufen um die Militärposten herum. Ich frage mich immer: „Wissen die Soldaten das nicht? Warum unternehmen sie nichts dagegen? Können sie sich nicht ein bisschen mehr anstrengen, um dieses Land Brasilien voranzubringen?“

Dzuliferi Huhuteni, Schamanenlehrling

Auszug aus dem Buch „Der Sohn des Schamanen“

São Gabriel da Cachoeira ist hier mit 40.000 Einwohnern die größte Stadt (c) Giorgio Palmera
Das „Zentrum der Welt“ verorten die Huhuteni aber in Hipana am Rio Ayari (c) Giorgio Palmera

Video: Ameisensammeln in Hipana

„Es ist einfach, die Ameisen zu sammeln. Du steckst ein Palmenblatt in ein Ameisenloch und ziehst es wieder heraus. Die Ameisen haken sich daran fest. Du kannst die Ameisen kochen oder sie für die Soße benutzen. Ihre Köpfe kannst du auch roh in den Mund stecken. Du beißt darauf, und der Kopf zerplatzt, den restlichen Körper drehst du mit den Fingern ab. Du verziehst dein Gesicht, aber persönlich finde ich, dass Ameisen ein guter Beitrag zur Ernährung mit Eiweißstoffen sind.“

Dzuliferi Huhuteni, Schamanenlehrling
Ameisensammeln in Hipana
Der Fotograf Giorgio Palmera hat auf diesen Reisen umfangreiches Foto- und Filmmaterial aufgenommen. Medienorganisationen, die es benutzen wollen, können sich beim Verlag oder direkt bei Giorgio melden.

Wer ist der Giftmörder von Hipana?

Du fragst, wer in Hipana hinter den Morden steckt. Ich finde, dass das eine gute Frage ist. Wer will so viel Böses gegen meine Familie tun, obwohl wir selber so friedlich sind?

Über die Jahre ist das Böse stärker geworden in meinem Dorf. Ich kann es spüren, seit wir angekommen sind. Das Böse in Hipana hat eine Geschichte, sie reicht weit zurück. Als ich ein Kind war, wurde einmal ein neues Haus gebaut. Die Erwachsenen hoben die Löcher für die Holzpfähle aus, und ich spielte mit der Erde und dem Sand. Ich fand zwei kleine Dosen, die tief vergraben waren, randvoll mit verklumptem schwarzem Pech. Ich warf sie einfach weg, aber ich erzählte auch meinem Großvater José davon, der damals der Häuptling war. Er war nicht mal überrascht. Er sagte, dass er die Döschen schon lange in seinen Träumen gesehen hatte, sie aber nirgendwo finden konnte.

Solches Gift wird tief unter der Erde vergraben, und die Menschen beginnen deswegen Streit. Die jungen Männer prügeln sich um die Mädchen, Eheleute entzweien sich ohne Grund. Aber niemand weiß, wer diese Dosen vergraben hatte, ob es ein Zauberer von flussaufwärts oder von flussabwärts war. Wir wissen nur, dass es immer viel Streit in Hipana gegeben hatte, irgendwelche Beschuldigungen, irgendwelche Gerüchte. Nie weiß man so etwas ganz genau.

Selbst wenn ein Giftmord geschieht, kann keiner sagen, wer der Mörder ist. Wir wissen nur, dass er unter uns lebt. Ist es ein Mann oder eine Frau? Alt oder jung? Der Mörder besucht unsere Feste und sitzt im Gemeindehaus, morgens und abends, beim Frühstück und beim Abendessen mit dem ganzen Dorf. An einem geheimen Ort versteckt er sein Gift.

Dzuliferi Huhuteni, Schamanenlehrling

Auszug aus dem Buch „Der Sohn des Schamanen“

Schamanenhaus in Hipana (c) Giorgio Palmera
Ritual in Hipana (c) Giorgio Palmera
Zubereitung von Pariká (c) Giorgio Palmera

Vier Jahre, ein Buch

In wenigen Wochen ist es so weit: Am 13. September erscheint im Heyne-Verlag „Der Sohn des Schamanen“, ein Hardcover von rund 300 Seiten über den Überlebenskampf des traditionsreichen Volks der Huhuteni. Am Oberlauf des Rio Negro behaupten die Leute, dass die Huhuteni-Schamanen auf unerklärliche Weise Krankheiten heilen können – aber dass sie auch mit bloßer Gedankenkraft ihre Feinde töten. Doch kann dieses gefürchtete Volk auch etwas ausreichen gegen Goldgräber, Holzfäller, Milizen und andere Zerstörer des Regenwalds?

Das Buch ist das Ergebnis jahrelanger Recherchen, vieler Fahrten auf den Flüssen im nordwestlichen Amazonasgebiet und einiger ausgedehnter Expeditionen durch den Regenwald. Unterwegs waren der Journalist Thomas Fischermann, die Biologin Dr. Luiza de Paula, der Waldführer und Indigenenexperte Davilson Brasileiro und der Fotograf Giorgio Palmera.

Der Held des Buches ist Dzuliferi Huhuteni, der als „Sohn des Schamanen“ in diesem Buch seine Geschichte erzählt. Er ist am Ursprung der Welt geboren, hat in seinem bewegten Leben einen großen Teil des Amazonasraums bereist. Er hat die Zerstörung an anderen Orten gesehen und will jetzt alles geben, um den Lebensraum seines Volkes und das kulturelle Erbe seiner Familie zu beschützen.