Wenn du zaubern willst …

… musst du erst sterben. Dann darf in deinem Körper kein Leben mehr sein. Du sinkst zu Boden und fühlst, wie das Blut deine Adern verlässt. Bald liegst du einfach so herum, wie ein Stück Holz, und es ist besser, wenn deine Verwandten dich nicht sehen. Sonst machen sie sich Sorgen und weinen um dich.

Aber du, der Zauberer, hast keine Angst. Du weisst, dass ein neues Leben in dich fährt und dass ein anderes Blut deinen Körper durchströmt. Es ist das Blut unserer Götter, der Saft der Pflanze Pariká, die für die Menschen wächst, damit sie reisen können. Weil du keinen Körper hast, darfst du hinauf in die Andere Welt.

Deine toten Augen erblicken die Sonne eines alten Himmels, deine lahmen Beine tragen dich durch die Häuser der Toten. Du kannst sie um Rat und Hilfe bitten, und wenn du viel Mut hast, steigst du bis zu unserem Gott Kuwai hinauf. Vielleicht gelingt es dir, seinen mächtigen Pelz zu umarmen? Dann erlangst du große Macht.

Dzuliferi Huhuteni, Schamanenlehrling

Ameisenernte in Hipana
Aufnahmen (c) Giorgio Palmera

Im äußersten Nordwesten Brasiliens kann man den Amazonaswald noch so wie vor der großen Vernichtung erleben. In dieser satten Naturlandschaft mit ihrer überbordenden Vegetation, ihrem schwülheißen Klima und ihrem Soundtrack aus Tierstimmen und Insekten begreift man schnell: Den Wert des Regenwalds kann man nicht nur in Kilotonnen Holz ausdrücken, in seiner Aufnahmefähigkeit für das Klimagas CO2 oder in seiner Funktion als gigantischer Wasserschwamm, der das Weltklima mitreguliert. Das Roden und Brandschatzen in diesem Teil der Welt setzt auch unwiederbringliche Wissensquellen aufs Spiel.

Ich traf auf meinen Reisen Naturwissenschaftler, die geradezu panisch damit beschäftigt sind, noch schnell ein paar Tier-, Pilz-, Pflanzen- und Mikrobenspezies zu erforschen. Sie wissen um die riesige Artenvielfalt in dieser Region – und sie befürchten, dass in ein, zwei Jahrzehnten nur noch wenig davon übrig bleibt und dass dann alles Wissen über diese Spezies verloren geht.

Wenn die Forscher ihre Entdeckungen machen, stoßen sie regelmäßig darauf, dass ihnen irgendein indigenes Volk schon zuvorgekommen ist. Sie begegnen Schamanen oder Dorfältesten, die aus diesen Naturstoffen Heilmittel, Waffen, Gifte oder Werkstoffe für die Landwirtschaft machen. Das entsprechende Wissen geben sie mündlich in Erzählungen und Liedern weiter, Generation für Generation, über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinweg.

Thomas Fischermann, Journalist

Piranha-Fisch aus dem Ayari-Fluss (c) Giorgio Palmera

Seit Jahren schon kommen Landvermesser in unsere Gegend, und Politiker, die mit uns Geschäfte machen wollen. Einige haben Interesse am Holz, andere wollen nach Gold oder Diamanten graben. Sie locken die jungen Leute in die Städte, und die Regierung in Brasilia sagt dazu: Für uns Indianer ist das der richtige Weg. Ich habe eine andere Meinung darüber. Ich frage mich, was in den Städten aus uns werden soll. Ich finde, wir sollen auch weiter so leben dürfen wie früher. Jeder soll das für sich entscheiden können. Mit meinem Vater habe ich mich deshalb viel gestritten.

„Sie sind ein Lehrer für uns!“, sagte ich ihm. „Können wir nicht unsere Kräfte nutzen, um unsere Feinde zu bekämpfen, und die Welt wieder so erschaffen, wie sie war? Du wirst bald sterben, und dann muss es eine neue Generation von Zauberern geben. Wir wollen die Krankheiten heilen und unser Dorf verteidigen.“

Und dann, im Jahr 2009, hat mein Vater uns alle überrascht.

Dzuliferi Huhuteni, Schamanenlehrling

Fischfang mit Köchern in Hipana (c) Giorgio Palmera